Zurück
Sustainable Finance
Greenwashing: eher Politik- denn Marktversagen
Beim Sustainable-Finance-Programm der EU ist eine kritische Zwischenbilanz an der Zeit, schreibt Professor Henry Schäfer in einem Gastbeitrag.

Ob Greenwashing, Grünfärberei, Reinwaschen oder vergleichbare Bezeichnungen – es mehren sich in den vergangenen Monaten die Anzeichen dafür, dass die von den Beschlüssen und Direktiven von EU-Kommission und -Parlament beabsichtigte „Green Transition“ ein wachsendes Glaubwürdigkeitsproblems bekommt. Aktuell im medialen und aufsichtsrechtlichen Schweinwerfer steht die Kritik am deutschen Marktführer im Fondsgeschäft, der DWS-Gruppe. Es heißt, die grüne Etikettierung ihres Fondsgeschäfts sei weitgehend ohne adäquate Produktsubstanz.

Während diese Anschuldigungen die deutsche Finanzaufsicht und ihre US-amerikanischen Kollegen von der SEC auf den Plan gerufen haben, musste sich zuvor die Dekabank mit einer Klage der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg vor dem Landgericht Frankfurt/Main auseinandersetzen, die den Impact-Rechner ihrer Nachhaltigkeitsfonds als für Anleger irreführend anmahnte.

Scheinbar veranlasst durch solche Fälle hat sich die deutsche Finanzaufsicht in ihrem „Bafin-Journal“ vom August dieses Jahres dem Thema Greenwashing gewidmet. Dass auch in anderen Ländern vermeintlichen grünen Täuschungsmanövern nachgegangen wird, zeigt ein aktueller Sonderbericht des Internationalen Verbands der Wertpapieraufsichtsbehörden (IOSCO) und eine Eilmitteilung der SEC zu Greenwashing vom Frühjahr dieses Jahres. Auch die EU-Kommission nimmt die Gefahr des Greenwashings zur Kenntnis.

Informationsasymmetrien bei Prinzipalen und Agenten

Aber, wo liegt das Problem? Hierzu mag eine kurze Konsultation der Wirtschaftswissenschaften, respektive der neo-institutionenökonomischen Theorie aufschlussreich sein. Zentral ist dort die vertragstheoretische Unterscheidung in Prinzipale (also Auftraggeber wie zum Beispiel Privathaushalte, die ihr Erspartes „grün“ anlegen wollen) und Agenten (das heißt: Auftragnehmer wie Finanzinstitute, die beispielsweise Fonds mit einem grünen Versprechen anbieten).

Beide Seiten gehen eine Vertragsbeziehung ein, um ihre wirtschaftlichen Ziele zu verwirklichen, die nicht immer konfliktfrei sind. Beide Seiten sind dabei eingebunden in Pflichten und Rechte. Oft bestehen zwischen Prinzipalen und Agenten Informationsasymmetrien, da es den perfekten Vertrag in der Praxis kaum gibt. Und was verschärfend im Finanzsektor hinzukommt: Meist sind Anlageprodukte komplex und nicht auf Anhieb von Anlegern zu durchschauen.

Sie offenbaren ihnen oft erst nach dem Erwerb „ihre wahre Produktsubstanz“ und ob die im Finanzvertrag in Aussicht gestellten Leistungen wirklich erfüllt werden. Für diesen Sachverhalt steht in der Wissenschaft der Begriff der Erfahrens- oder Glaubensgüter. Grüne Finanzprodukte dürften wegen ihrer hohen Vertragskomplexitäten überwiegend dort einzuordnen sein.

In der Praxis sind es denn auch meist die Prinzipale, also Anleger, die gegenüber den Agenten relativ schlechter informiert sind. Daraus ergeben sich Problemzonen in den Vertragsbeziehungen, die gängigerweise in Qualitätsunsicherheiten, Verhaltensüberraschungen (Hold Up) und moralisches Risiko (Moral Hazard) unterschieden werden. Gemeinsam ist ihnen, dass sie Eigenmächtigkeiten von Anbieter-Agenten zulasten von Anleger-Prinzipalen ermöglichen, da diese meist die Unerfahrenen sind, für sie die Mühen zur Transparenzgewinnung zu hoch sein können oder sich im eigenen grünen Überschwang nicht rational verhalten.

Bleiben Informationslücken bestehen, ist es ein Leichtes für die besser informierte (Anbieter-)Seite, auf die Schnelle zum eigenen Vorteil und zulasten der Prinzipale deren Unwissenheit profitabel auszunutzen. Solch ein Opportunismus kann vielfältige Formen annehmen und etwa darin bestehen, konventionellen Anlageprodukten mit wenigen Handgriffen ein grünes Image zu verleihen, also beispielsweise den absatzförderlichen Eindruck zu erwecken, dass ein engagierter Anleger mit dem Erwerb grüner Fondsanteile bei Unternehmen klimafreundliche Produktionsweisen bewirken kann.

Bei Unsicherheit verdrängen die Schlechten die Guten

Jenseits einer Übervorteilung individueller Anleger durch den Produktanbieter kann sich ein ordnungspolitischer Problembereich auftun. In seinem weltweit bis heute weithin beachteten Beitrag, „The Market for Lemons: Quality Uncertainty and the Market Mechanism“, hat der US-Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger (2001), George A. Akerlof, im Jahr 1970 nachgewiesen, dass bei anhaltender Unsicherheit über die wahren Qualitäten von Gütern, die schlechten (die „Lemons“) die guten verdrängen und im Extremfall eine sogenannte adverse Selektion eintritt, aufgrund deren Märkte kollabieren können.

Im Bereich grüner Geldanlagen würde dies bedeuten, dass die Anleger nicht mehr wissen, woran sie bei einer steigenden Zahl aufgedeckter, grün gewaschener Anlageprodukte sind und sich frustriert von grünem Geld abwenden. Nun sind in der Finanzbranche im Gegensatz zur Industrie wirkliche Produktinnovationen eher selten – sieht man von den strukturierten, aber vielfach toxischen Finanzprodukten im Vorfeld der Subprime- und Finanzkrise 2008/09 ab.

Auch wird man in Finanzinstituten in der Regel keine Abteilung „Forschung und Entwicklung“ finden, wie es in vielen Industrieunternehmen gang und gäbe ist. Typischerweise werden in Finanzinstituten bereits bestehende Finanzprodukte mit neuen Zusatzeigenschaften (kostengünstig) angereichert, also sogenannte Produktvariationen betrieben. Dies ist derzeit bei etlichen ehemals konventionellen und zu Grün mutierten Fonds im Markt zu beobachten, damit Anbieter möglichst schnell den Anspruch „be seen to be green“ erfüllen zu können.

Henry Schäfer
Prof. Henry Schäfer.

Damit müssen noch nicht Greenwashings einhergehen. Die entstehen, wenn zwischen grünem Anspruch oder Versprechen und deren tatsächlichem Nachweis ein Zwiespalt, gar Widerspruch klafft. Dies kann nicht nur zu ernsthaften Verletzungen des Anlegerwohls führen. Der Imageverlust einzelner Anbieter bewirkt darüber hinaus einen Reputationsschaden für die gesamte Finanzbranche.

Auswege könnten Zertifizierungen unabhängiger Prüfer sein, und tatsächlich schwebt der EU-Kommission auch ein „Bio-Siegel“ für Finanzprodukte vor. Allerdings zeigt die grüne Landwirtschaft mit ihren vielfältigen und konkurrierenden Bio-Labels, dass neutrale Prüfer zu unterschiedlichen Beurteilungen kommen können. Und das Informationsproblem von Anlegern wird bei grünen Finanzlabeln nur vom Finanzprodukt auf den Zertifizierer und dessen Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit verlagert.

Finanzinstitute werden zur Exekutive der Industriepolitik

Im Fall grüner Anlageprodukte liegt noch eine ganz spezielle Greenwashing-Problematik vor. Das gerne von Befürwortern des Sustainable Finance als „Nudging“ verharmloste Einbinden von Finanzinstituten für die Green Economy ist nichts anderes als ihre Umwidmung zur Exekutive einer Industriepolitik, die die Verhaltens- und Investitionsänderungen hin zu geringerem Treibhausgasausstoß oder mehr Beachtung von Menschenrechten bei Industrie, Privathaushalten und öffentlichen Stellen bewirken soll.

Anlagen, Kredite, Risikoschutz unterliegen zukünftig politischen und nicht wie bisher rein wirtschaftlichen Zielen und Kriterien. Der Finanzsektor muss zukünftig Kapital zum Umbau hin zu einer klimafreundlichen und sozialen Wirtschaft in der EU kanalisieren. Die hierzu delegierten Brüsseler Rechtsakte erscheinen stakkatoartig, mit hoher Frequenz und flankiert von zahlreichen daran anknüpfenden Bestimmungen nationaler Finanzaufsichten.

Sie treffen auf eine zumindest in Deutschland weitgehend unvorbereitete Finanz- und Versicherungsindustrie, die sich wiederum den Vorwurf gefallen lassen muss, jahrelang Nachhaltigkeitsforderungen von vor allem Nichtregierungsorganisationen ignoriert oder abgelehnt zu haben.

Nur konnte kaum jemand eine derartige Inanspruchnahme des Finanzsektors für eine grüne Industriepolitik vorhersagen. Schon gar nicht war zu erahnen, dass Finanzierungen von Investitionen und Maßnahmen kompromisslos vom Nachweis positiver Wirkungen auf Umwelt, Soziales und Unternehmensführung und der Einhaltung grüner sowie sozialer Taxonomien abhängig sein sollen. Forderungen und Auflagen zur Erzielung von sogenanntem Impact und die politische Instrumentalisierung des Finanzgeschäfts beschreiben einen historisch einmaligen Eingriff in die privatwirtschaftliche Autonomie.

Es wäre daher verwunderlich, wenn die erzwungene Rolle von Finanzinstituten als „Wirtschaftspolitiker vor Ort“, der hohe Erwartungsdruck sowie die Unvollständigkeiten und Ungenauigkeiten der Brüsseler Beschlüsse und ihrer Verwandten nicht zu geschäftsstrategischen und -politischen Orientierungsproblemen führen würden.

Grünfärberei als Kollateralschaden der Politik

Greenwashing dürfte nicht unerheblich aus einer solchen Gemengelage genährt werden und sollte ehrlicherweise von EU-Kommission und -Parlament als „Kollateralschaden“ verstanden werden. Seine Ursachen resultieren aus dem Widerspruch der Vereinnahmung eines auf privaten Eigentumsrechten basierenden Finanzsektors für eine EU-Industriepolitik.

Damit es der EU-Kommission mit ihrem Sustainable-Finance-Programm nicht so ergeht wie Goethes Zauberlehrling, der bekanntlich die Kontrolle verlor, ist eine (selbst-)kritische Zwischenbilanz und Politiküberprüfung notwendig. Greenwashing sollte als Hinweis verstanden werden, dass es weniger um ein Marktversagen geht als immer mehr um Politikversagen in Sachen Sustainable Finance.

Es ist mittlerweile nicht mehr zu übersehen, dass die größten und dringend erforderlichen Maßnahmen zur Senkung des Treibhausgasausstoßes und zur Erreichung der Klimaschutzziele nicht vom Finanzsektor bewirkt werden können, sondern von umfassenden Systemreformen im Bereich des Emissionshandelssystems, dem Abbau gesellschaftlicher Hemmnisse für grüne Realinvestitionen, klimafreundlichen Konsumänderungen, klaren regulatorischen Handlungsrahmen für grüne Technologien und vielem anderem.

Die sich am Horizont abzeichnende Anerkennung von Atomenergie als mit der EU-Taxonomie vereinbar könnte für viele deutsche Anleger als unverzeihliche Irreführung bei „grünem Geld“ verstanden werden und würde die hier angestellte Hypothese weiter nähren, dass Greenwashing bei Sustainable Finance mehr auf Politik-, denn auf Marktversagen zurückzuführen ist.

Der Autor:

Prof. Dr. Henry Schäfer war bis 2019 Ordinarius der Universität Stuttgart und Inhaber des Lehrstuhls „Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Finanzwirtschaft“ sowie Leiter der Abteilung III des Betriebswirtschaftlichen Instituts der Universität Stuttgart. Eine besondere Bedeutung hat bis heute der Forschungsbereich „Sustainability & Finance“. Seit 2007 ist er geschäftsführender Gesellschafter der von ihm gegründeten EccoWorks GmbH, eine Beratungsgesellschaft für Sustainable Finance und werteorientierte Unternehmensführung.

Prof. Henry Schäfer (Foto oben: Shutterstock)
– 10. Dezember 2021