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Finanzinvestoren
Finanzmarkt untergräbt Realwirtschaft
Das Streben am Finanzmarkt nach schnellem Profit geht zulasten der Realwirtschaft. Das belegt die Studie einer konservativen US-amerikanischen Denkfabrik.

Ein Problem entstehe, wenn der Finanzsektor aufhört, der Realwirtschaft zu Dienste zu stehen und stattdessen die Realwirtschaft dem Finanzsektor dient, heißt es in der Studie, die vor Kurzem von der konservativen amerikanischen Denkfabrik (Think Tank) „American Compass“ veröffentlicht wurde.

Die Vermögenswerte in der Realwirtschaft würden dann bloß das Medium, das der Finanzsektor benutzt, um vielfältige, nicht investive Aktivitäten zugunsten des eigenen Profits zu entfalten. Was oft als „Investition“ bezeichnet werde, und was einen scheinbar kontinuierlich zunehmenden Anteil an unserer Wirtschaftsaktivität ausmacht, sei in Wirklichkeit gar keine Investitionstätigkeit – definiert als Allokation von Kapital zur Entwicklung neuer produktiver Kapazität.

Nicht-Investoren von der Wall Street

Letztlich handele es sich um nichts anderes als den Handel mit Vermögenswerten, um Profit zu erzielen und Macht oder Einfluss zu gewinnen. Die Unternehmen, die eigentlich Geld für echte Investitionen aufwenden müssten, hätten die Kapazität und das Mandat dazu verloren und übermittelten stattdessen auf Kosten ihrer eigenen Gesundheit Cash zurück an die Nicht-Investoren von der Wall Street.

Im gleichen Maß, in dem Nicht-Investoren die Banken und Märkte überrannt und Kontrolle über die Unternehmen an sich gezogen hätten, sei die echte Investitionstätigkeit (nämlich solche in den Kapitalstock) zurückgegangen.  

Das Ergebnis: „Der Kapitalstock der Nation ist um buchstäblich Billionen von Dollars kleiner (als eigentlich nötig), und dies reflektiert zahllose nie gegründete Betriebe, nie verfolgte Innovationen und unzählige Arbeiter, denen nie eine Chance gegeben wurde.“

 

Zeigt anhand einer Studie auf, dass die Debatte über Finanzinvestoren, die wie „Heuschrecken“ auftreten, nach wie vor aktuell ist: Unser Autor Axel Bertuch-Samuels, ehemaliger Stellvertretender Direktor, Abteilung Geld und Kapitalmarkt beim Internationalen Währungsfonds (IWF) und ehemaliger Ständiger Vertreter des IWF bei den Vereinten Nationen.

Studienverfasser war Berater der Private-Equity-Größe Mitt Romney

Wer solch stramme Worte aus einer konservativen, den Republikanern nahestehenden Institution nicht erwartet, wird erst recht überrascht sein, zu erfahren, dass der Autor Oren Cass im Jahr 2012 Berater von Präsidentschaftskandidat Mitt Romney war, der bekanntermaßen seinen Wohlstand dem Private-Equity-Geschäft verdankt. Romney und Oren Cass waren Kollegen bei der Wirtschaftsberatungsfirma Bain & Company, aus der die Private-Equity-Gesellschaft Bain Capital mit Mitt Romney als CEO hervorging.
 
Somit plaudert Cass aus der Schule, wenn er aus seiner Sicht das Prinzip von Private Equity wie folgt beschreibt: „Wenn wir diese Unternehmen aufkaufen und dann die Einzelteile verscherbeln oder die Arbeiter und Lieferanten ausquetschen, die Anlageinvestitionen kappen und den Unternehmen Schulden aufladen, holen wir viel mehr Geld heraus als wir reinstecken.“

Private Equity ist nur eine Facette eines Struktur-Problems

So problematisch das Geschäftsmodell der Private-Equity-Branche sein mag, die Branche selbst steht eigentlich gar nicht im Mittelpunkt der Studie von Oren Cass. Seine Analyse und Schlussfolgerungen ziehen den Bogen viel weiter. In der analytischen Gesamtsicht stellt Private Equity denn auch nur eine Facette eines tiefsitzenden Struktur-Problems dar, nämlich der generell zunehmenden Kurzfristorientierung der Finanzmärkte mit ihrer Ausrichtung am  schnell verdienten Geld und eines damit einhergehenden Rückgangs der Kapitalbildung in der Realwirtschaft.  
 
So geht aus der Analyse des Investitionsverhaltens zwischen 1971 und 2017 aller an der New York Stock Exchange und Nasdaq gelisteten und gehandelten Unternehmen mit Hauptsitz in den USA hervor, dass hier ein langjähriger Trend am Werk ist: eine fundamentale Transformation der Geschäftsstrategie des typischen amerikanischen Unternehmens zugunsten einer Befriedigung der Shareholder um den Preis einer Erosion des Kapitalstocks. 
 
Auf Dauer muss dies zwangsläufig eine Verschlechterung der Wettbewerbsfähigkeit und einen Rückgang des (Potenzial-)Wachstums nach sich ziehen. Es dürfte auch die seit geraumer Zeit zu beobachtende rückläufige Produktivität erklären – zumindest teilweise.

Produktivität leidet unter Shareholder-Ausrichtung

Cass führt in dem Zusammenhang an, dass das Produktivitätswachstum in den USA deutlich ins Stottern geraten sei. Während zwischen 1980 und 2009 noch jährliche Zuwachsraten von 2,1 Prozent zu verzeichnen waren, habe sich diese Rate im Zeitraum 2010 bis 19 auf  jährlich 1,2 Prozent verlangsamt; und im verarbeitenden Gewerbe sei die Produktivität in fünf der letzten sechs Jahre sogar geschrumpft.      
 
In einer gut funktionierenden Wirtschaft würde Kapital von den Finanzmärkten in die Unternehmen mit Finanzierungsbedarf gelenkt und ein Teil der Unternehmensgewinne würde von dort – in Form von Zinsen, Dividenden, Aktienrückkäufen und Amortisierung von Schulden – an die Finanzmärkte zurückfließen. Während dies auch lange Zeit in der US-Wirtschaft der Fall gewesen sei, habe sich dies etwa seit Beginn des neuen Millenniums ins Gegenteil verkehrt.

Aktienmarkt floriert trotz Wachstumseinbruchs

Der massive Ressourcentransfer von der Realwirtschaft zum Finanzsektor ist nach Ansicht des Autors auch ein treibender Faktor hinter der zu beobachtenden Dissonanz zwischen der Entwicklung der US-Wirtschaft und des Aktienmarktes in den vergangenen Jahren. Er liefert somit auch eine Erklärung, warum der US-Aktienmarkt scheinbar ungeachtet multipler ökonomischer und nicht ökonomischer Schocks immer neue Höhen erklimmt, und selbst die anhaltende Coronavirus-Pandemie diesem Höhenzug nichts anzuhaben scheint, während der damit einhergehende Schock zu einem massiven Wachstumseinbruch und steigender Arbeitslosigkeit führte.   
 
Nicht besonders ausführlich untersucht werden in der Studie von Veränderungen im firmenspezifischen Investitionsverhalten die Kausalzusammenhänge zwischen einer über mehrere Jahre hinweg praktizierten Politik extrem niedriger Zinsen und einer zunehmenden Neigung zu Aktien-Rückkäufen durch Unternehmen, statt das billige Geldangebot zur Erweiterung ihre Anlagekapitals zu verwenden.
 
Gleichwohl findet sich ein kritischer Hinweis darauf, dass Geldpolitik nur dann ihre erwünschte Wirkung zeigen könne, wenn die Marktwirtschaft so funktioniere, wie man erwarten sollte, nämlich dass mit niedrigen Zinsen echte Investitionstätigkeit angeregt wird, die zu steigender  Nachfrage und Produktivität führt.

Mehr Geld für Rückkäufe als für Investition

Zur Illustration der Dimension des Ressourcenflusses von Real- zu Finanzsektor werden mehrere Firmenbeispiele angeführt. So gab etwa das Technologie-Unternehmen Cisco in den vergangenen 15 Jahren 101 Milliarden Dollar für Aktienrückkäufe aus, investierte aber lediglich 15 Milliarden Dollar ins Unternehmen selbst.
 
Ein anderes Beispiel – IBM – spricht ebenfalls Bände: In den 70er-Jahren zahlte IBM seinen Aktieneignern 30 Cents für jeden investierten Dollar. Ab 2004 hat sich dieses Verhältnis drastisch verändert, und die Shareholder erhielten seither Jahr für Jahr drei bis fünf Dollar pro Dollar, den IBM in sein Anlagekapital investierte. 
 
Eher „Eroder“ als „Wachstumverfolger“: Cisco gab in den vergangenen 15 Jahren 101 Milliarden Dollar für Aktienrückkäufe aus, investierte aber lediglich 15 Milliarden Dollar ins Unternehmen selbst.
 
In der Methodologie der Analyse von Cass werden Firmen, die ein solches Verhalten an den Tag legen als „Eroders“ („Substanzverzehrer“) klassifiziert – Firmen also, die ihren Kapitalstock schneller verbrauchen als sie ihr Anlagekapital durch Neu-Investition ersetzen, während sie gleichzeitig ihre Shareholder mit Cash beglücken, obwohl sie ausreichend Gewinn erzielen, um sowohl Shareholder zu bedienen als auch ihren Kapitalstock aufzufüllen.  
 
In der Drei-Gruppen-Klassifizierung von Unternehmen der Analyse gibt es neben den „Eroders“ noch die „Sustainers“ („Substanzbewahrer“) und die „Growers“ („Wachstumsverfolger“). Ein Unternehmen zählt  zur Kategorie der Substanzbewahrer, wenn seine Anlagekapitalinvestitionen den Kapitalverbrauch übersteigen und die Gewinne ausreichen, darüber hinaus noch Ausschüttungen an die Aktieneigner vorzunehmen. Wachstumsverfolger zeichnen sich dadurch aus, dass sie mehr in ihren Kapitalstock investieren als sie Gewinn erzielen.

Tech-Giganten als Substanzbewahrer

Ein Wachstumsverfolger – so Cass – sei der klassische Nutzer von Kapitalmarkt-Finanzierung, und ein Substanzbewahrer ist das typische erfolgreiche kapitalistische Unternehmen. Zu den Substanzbewahrern gehören übrigens Tech-Giganten wir Apple, Microsoft und Facebook. Ein Substanzverzehrer sei ein seltsamer Unternehmenskörper, der seine eigenen Organe aberntet, um den Appetit seiner Anteilseigner auf kurzfristigen Nutzen zu befriedigen. 
 
In den vergangenen vier bis fünf Jahrzehnten hat sich laut Cass in der US-Wirtschaft ein dramatischer Wandel vollzogen, von einer Volkswirtschaft, in der die meisten Unternehmen Substanzbewahrer waren, zu einer, in der die Substanzverzehrer vorherrschen. 
 
Tech-Giganten wie Microsoft deklariert die Denkfabrik „American Compass“ als „Substanzbewahrer“.

Händler, Spekulanten und Manipulierer

Was muss passieren, um auf den rechten Weg zurückzufinden? Als guten ersten Schritt schlägt Cass vor, die Dinge beim rechten Namen zu nennen, statt weiterhin der irreführenden Terminologie der Finanzmärkte zu folgen: „Hören wir doch auf, jene als Investoren zu bezeichnen, die nicht investieren. Die Millionen von Amerikanern, die ihre Ersparnisse dem Markt anvertrauen, sind Sparer. Damit es klar ist: Sparen ist gut und wichtig. Aber Sparer überlassen das Investieren anderen.“
 
Diejenigen, die ihr Geld damit verdienten, diese Ersparnisse zum Kauf und Verkauf von Vermögenswerten (Assets) zu verwenden, seien Händler. Jene, die versuchten Profit zu machen, indem sie auf die (vermeintlich) richtigen Vermögenswerte setzen, seien Spekulanten. Und jene, die Firmen aufkaufen und dann versuchen, höhere Profite durch finanzielle Manöver zu generieren (financial engineering), seien Manipulierer.
 
Cass sagt, er erkenne einen Investor, wenn er ihn sehe: Der Investor werde Geld in der Realwirtschaft anlegen, und zwar für Arbeitskräfte und Produktionsmittel, welche die Kapazitäten eines Unternehmens und ihr Zukunftspotenzial ausweiten.

Staatliche Eingriffe unabdingbar

Abschließend begründet er die Notwendigkeit von staatlichen Eingriffen in das Finanzmarktgeschehen als im öffentlichen Interesse und im Dienste der Sicherung der Zukunftsfähigkeit der Volkswirtschaft liegend: „Die Märkte sind nicht selbstregulierend, und diese Probleme werden sich nicht von selbst lösen. Damit der Kapitalismus sein Versprechen einlösen kann, müssen die politisch Verantwortlichen ihren Job tun und Rahmenbedingungen wieder herstellen, innerhalb derer er gut funktionieren wird.“
 
Ein gut funktionierender Finanzsektor sei unerlässlich, wenn es darum gehe, Kapital in die beste Verwendung zu lenken. Ebenso unabdingbar sei aber eine Politik, die Regeln und Beschränkungen setzt, innerhalb derer der Sektor operiert. Solche Leitplanken seien nicht nur mit dem Kapitalismus vereinbar, sondern notwendig für seinen Erfolg.  
 
 
Der Autor Axel Bertuch-Samuels ist ehemaliger Stellvertretender Direktor, Abteilung Geld und Kapitalmarkt beim Internationalen Währungsfonds (IWF) und ehemaliger Ständiger Vertreter des IWF bei den Vereinten Nationen.
 
 
 
Literatur
  1. Cass, Oren: „The Corporate Erosion of Capitalism – A Firm-Level Analysis of Declining Business Investment 1971 – 2017,“ American Compass Research; March 2017. 
     
  2. Lazonick, William: „Stock buybacks: From retain-and-reinvest to downsize-and-distribute“, Brookings Institution, April 2015.
     
  3. Rubio, Senator Marco: „American Investment in the 21st Century – Project for Strong Labor Markets and National Development“, US Senate Committee on Small Business and Entrepreneurship, May 15 2019. 
     
  4. Sheng, Andrew. 2009. „From Asian to Global Financial Crisis: An Asian Regulator's View of Unfettered Finance in the 1990s and 2000s“. Cambridge University Press.
Axel Bertuch-Samuels
– 4. Mai 2021